„Ich kann nicht sicher sagen, dass es sich so nicht zugetragen hat“, fasst Marlene Fröhlich die Arbeit Studio Supplement zusammen, in der sie KI-generierte Bilder mit dem analogen fotografischen Prozess verbindet. Durch den Einsatz einer bildgebenden Künstlichen Intelligenz (KI) imaginiert die Fotografin und Multimediakünstlerin eine diversere Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die queere und intersektional-feministische Szenen des Lebens zeigt. Eine Vergangenheit voll von Menschen und Situationen, die unterdrückt und unsichtbar gemacht wurden – und es immer noch werden.

„Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“, schreibt Walter Benjamin. Was aber, wenn die Bilder fehlen? Trotz der unermüdlichen Arbeit von queeren und feministischen Historiker*innen, Archivar*innen und Aktivist*innen haben es nur wenige feministische und queere Bilder in das kollektive visuelle Gedächtnis geschafft. Beeindruckt von der emotionalen Wirkung von KI-generierten alten Gemälden sich küssender queerer Personen, beschloss Fröhlich, das visuelle Gedächtnis mit KI-generierten Fotos von Situationen zu ergänzen, die hätten sein können. Als professionell ausgebildete Fotografin weiß Fröhlich sehr genau um das realistische Erscheinungsbild und die affektive Kraft der Fotografie, oder wie Roland Barthes es nennen würde, das ihr „eigentümliche Wesen“ bescheid. Fröhlich entwickelt die feministischen und queeren Träume der Vergangenheit nicht alleine. Als Studio Supplement lädt die Künstlerin die Öffentlichkeit ein, Wünsche über Instagram einzuschicken. Anschließend konfrontiert Fröhlich die zutiefst voreingenommene und englischsprachige KI mit spezifischen Anfragen und übersetzt so die eingesendeten Texte in Bilder.

Dabei wählt Fröhlich für jede Zeitspanne unterschiedliche fotografische Methoden: „A cyanotype of an interracial couple of two trans masculine people kissing on a couch, 1940.“ „A polaroid lesbian couple taking a self-portrait, 1970.” „A tintype of a man in a ball gown, 1860“. Das Ziel: eine möglichst genaue Darstellung dessen, was gewesen sein könnte. Manchmal scheint dies unmöglich. Zum Beispiel ist die Aufforderung „Mann im Ballkleid“ in der Regel eine zu schwierige Aufgabe für das KI-Programm. Heteronormativität, die Normalisierung und Vorherrschaft von nur zwei und eindeutig gegensätzlichen Geschlechtern begrenzt und unterdrückt nicht nur Leben, sondern auch die Phantasie. Fröhlich zwingt die KI dazu, die queeren und intersektional-feministischen Träume auf spielerische Weise in Bilder zu verwandeln. Auch wenn hohe Genauigkeit und ein realistisches Erscheinungsbild das Ziel sind, lassen sich bei genauerem Hinsehen kleine Ungenauigkeiten und Irritationen in den Bildern entdecken: Eine Hand mit sieben Fingern. Ein Mann in einem Kleid und einem riesigen Ball in seinen Händen. Unscharfe Gesichter in einer Gruppe von Menschen. Fröhlich unterstreicht diese Zeichen der Künstlichkeit in der analogen Version von Studio Supplement. Die Künstlerin entwickelt jedes KI-generierte Foto als Unikat in verschiedenen Verfahren und Formaten mit dem Schwerpunkt auf abgelaufenen und auslaufenden Vintage-Materialien.

Die Abzüge variieren von Cartes de visite, fotografischen Visitenkarten im Taschenformat, die in den 1860er Jahren erfunden und in Alben getauscht und gesammelt wurden und als eine frühe Form sozialer Medien betrachtet werden können, bis hin zu großformatigen Polaroid-Abzügen, einer Methode, die vor allem in den 1970er und 1980er Jahren verwendet wurde. So mischt Fröhlich Formate, Methoden und Materialien und schafft auf diese Weise eine Irritation und Verbindung in der Linearität der Zeit. Darüber hinaus verschränkt Fröhlich ihre eigene künstlerische Praxis und bildgebenden Verfahren mit denen der KI. ermöglicht eine kurze Pause von einer Vergangenheit und Gegenwart, in der Körper und Gedanken feministischer, queerer und BIPoC-Personen verletzt wurden und immer noch werden. Die Arbeit thematisiert auf diese Weise den ständigen Mangel an Repräsentation sowie den Kampf darum in einer heteronormativen, rassistischen und kapitalistischen Welt. Studio Supplement hilft dabei sich vorzustellen, was gewesen sein könnte. Um auf Fröhlichs Worte zurückzukommen: Obwohl wir nicht sicher sagen können, dass es sich so nicht zugetragen hat, regt Studio Supplement dazu an, sich vorzustellen, dass Szenen wie jene, die Fröhlich und andere imaginieren, stattgefunden haben könnten – und wir es vielleicht nur (noch) nicht wissen.

Alina Strmljan